Noch nie war die Kindererziehung ein so grosses, schwieriges Thema wie heute. Warum ist das so? Genau, weil unsere Kultur auch bei diesem Thema weit vom natürlichen Weg abgekommen ist.
»Wer sein Kind liebt, braucht es nicht zu erziehen.«
Dieses Sprichwort aus Indien hat so viel Wahres! Es ist in der Tat genau so simpel, aber in der Praxis dann eben doch nicht ganz so einfach. Was damit gemeint ist, ist folgendes: Kinder sind von Natur aus darauf ausgelegt, den für sie sorgenden, sie liebenden Erwachsenen zu gefallen, nachzueifern, mit ihnen zu kooperieren. Alles andere würde evolutionsbiologisch gesehen gar keinen Sinn machen. Warum sollten sich Kinder auflehnen oder trotzig sein, den Eltern das Leben schwer machen? Kinder sind von Erwachsenen abhängig und alleine nicht überlebensfähig. Es liegt schlicht in ihrem Überlebensinstinkt, uns zu gefallen. Das Problem sind also nicht die Kinder, sondern unser Umgang mit ihnen. In der Hektik des Alltags sehen wir sie nicht, verstehen sie nicht, stellen zu hohe Anforderungen oder versuchen, sie zu kleinen braven Menschen zu erziehen. Dabei vergessen wir, dass ein Kind keine "Erziehung" braucht, denn es strebt ganz von alleine danach, es uns gleich zu tun, selbständig zu werden und sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Wir müssen dazu nichts mehr tun, als unsere Kinder wirklich zu sehen, ihr Verhalten richtig zu verstehen, sie bedingungslos zu lieben, die Bindung zu festigen und ihnen ein gutes Vorbild zu sein. Der Rest folgt von ganz allein, denn das hat die Natur wunderbar so eingerichtet.
Damit das Leben mit dem Kind diesem natürlichen, harmonischen Weg folgen kann, damit diese sprichwörtliche "Liebe" auch beim Kind ankommt, gilt es, ein paar grundlegende Dinge zu beachten. Allen voran, dass "Liebe" immer nur das ist, was DAS KIND fühlt. Wir können unser Kind von ganzem Herzen lieben, doch wenn wir (vielleicht sogar aus Liebe und weil wir ja nur das Beste fürs Kind wollen) irgendwelche fraglichen Erziehungsmethoden anwenden, wird beim Kind keine Liebe spürbar. Wenn unsere Liebe an Bedingungen geknüpft ist, wird beim Kind keine Liebe spürbar. Die Bindung wird geschwächt und wir können nicht von den positiven Effekten einer stabilen, sicheren Bindung profitieren.
Damit das Kind uns nacheifern, gefallen und mit uns kooperieren will, muss es sicher an uns gebunden sein, denn NUR wenn es an uns gebunden ist, sind wir aus seiner Sicht für sein Überleben wichtig. Nur dann zählt unsere Liebe und nur dann arbeitet die Bindung für uns uns macht das Leben mit Kind so viel einfacher.
Was also ist das genau? Wie entsteht eine gute Bindung? Was ist bedingungslose Liebe?
Wir haben bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehungsgrundsätze praktisch und alltagstauglich zusammengefasst auf unserem A3 Poster.
Bindung beginnt schon beim Neugeborenen. Dort ist Körperkontakt (z.B. durch das häufige Tragen im Tragetuch) und eine feinfühlige Reaktion auf Bedürfnisse zentral. Es bedeutet, immer sofort auf die Bedürfnisse des Kindes zu reagieren. Du stillst / fütterst das Baby bei den ersten Hungerzeichen, lange bevor es durch Schreien seinen Hunger signalisieren muss. Du lässt dein Kind friedlich und nah bei dir einschlafen, bevor es deine Nähe durch Schreien einfordern muss.
Beim Kleinkind ist weiterhin Körperkontakt wichtig, und die Erfüllung der Bedürfnisse wird etwas herausfordernder. Hier gilt es, genau hinzuschauen. Jedem "unerwünschten" Verhalten liegt ein schwieriges Gefühl oder ein unerfülltes Bedürfnis zugrunde. Konzentrieren wir uns nur auf das Verhalten, bestrafen wir, schreien wir, ärgern wir uns über ein mühsames Kind, übersehen wir viel zu schnell, was wirklich los ist. Kinder können ihre Gefühle und Bedürfnisse noch nicht mit Worten ausdrücken. Es ist unsere Aufgabe, hinter ein Verhalten zu blicken und wirklich zu VERSTEHEN, was das Kind braucht. Das braucht manchmal viel Geduld und Zeit, aber es lohnt sich, denn wenn wir ein "schwieriges" Verhalten nicht ablehnen, sondern das Kind in seiner emotionalen Not sehen und liebevoll eine Lösung finden, wird die Bindung gestärkt.
Was bedürfnisorientiert NICHT bedeutet:
Bedürfnisorientierte Erziehung wird oft falsch verstanden. Es geht nicht darum, sich selbst völlig aufzugeben, um nur noch für das Kind da zu sein. Es ist wichtig zu verstehen, dass in einer bedürfnisorientierten Familie die Bedürfnisse ALLER Beteiligten wichtig sind. Auch wir Eltern dürfen auf unsere Bedürfnisse achten. Denn nur wenn es uns gut geht, können wir uns gut um unsere Kinder kümmern. In der Praxis bedeutet das, sorgfältig abzuwägen, wessen Bedürfnisse gerade wichtiger sind. Das Neugeborene allein vor Hunger schreien zu lassen, weil Mama jetzt lieber noch etwas schlafen will, ist damit nicht gemeint. Hier liegt es in unserer Verantwortung, den Alltag so zu organisieren, dass alle Bedürfnisse erfüllt werden können. "Unden" nennt sich das. Wir suchen nach Wege, wie es Mama UND dem Baby gut geht. Je älter das Kind wird, desto eher kann es seine Bedürfnisse auch etwas hintenanstellen ohne dass die Bindung davon Schaden nimmt. Wichtig ist hier eine gute Begleitung, wenn das Kind frustriert ist - was es ja auch sein darf. Ebenfalls ist es wichtig, Bedürfnisse nicht mit Wünschen zu verwechseln! Du musst nicht drei verschiedene Mittagsmenüs kochen, weil jedes Kind etwas anderes essen will. Du bist der Erwachsene. Du hast die Verantwortung für die Beziehung und das Familienleben. Die Wünsche des Kindes liebevoll anzuhören und zu respektieren ist wichtig - nicht, jeden Wunsch zu erfüllen.
Bedingungslose Liebe bedeutet, das Kind um seiner selbst willen zu lieben - nicht für seine Leistungen, sein braves Verhalten oder sein gutes Benehmen. Dazu gehört, dass wir auf Lob und Belohnung genauso verzichten wie auf Strafen oder Kritik. Denn diese Dinge bewerten immer das Verhalten des Kindes.
Wenn wir davon ausgehen, dass jedes negative Verhalten einen tiefer liegenden Grund hat, wird klar, warum wir nicht schimpfen oder strafen müssen. Das Kind, das wild seine Spielsachen durch die Gegend wirft oder ein anderes Kind schubst, ist vielleicht einfach bloss müde oder es ist frustriert weil ihm etwas nicht gelungen ist. Das letzte was ihm in dieser Situation hilft, ist eine negative Reaktion durch uns Eltern. Es will in seiner Not gesehen werden. Wir Eltern können dem Kind helfen, seine Gefühle einzuordnen und ihm helfen, alternative Handlungsmöglichkeiten zu lernen (z.B. wenn es wütend ist mit dem Fuss aufstampfen statt das andere Kind zu schubsen.)
Und wenn wir davon ausgehen, dass das Kind automatisch seiner Natur gemäss lernen, selbständig werden und uns Eltern gefallen will, wird auch klar, warum Belohnungen und Lob kontraproduktiv sind. Ein Kind, das von sich aus helfen, brav sein oder laufen lernen will wird sich ziemlich vor den Kopf gestossen fühlen, wenn wir es dafür loben. Natürlich dürfen wir uns mit dem Kind über besondere Leistungen freuen, aber Lob oder Belohnungen, die auf positive Verstärkung eines Verhaltens abzielen, wirken sich schädlich auf die Entwicklung des Kindes und die Bindung aus. Es fühlt sich dann nicht mehr bedingungslos geliebt.
Herz an Herz
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